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Scham – gleich zurück an den Absender

Scham

Scham ist ein Gefühl der Verlegenheit. Es entsteht durch das Bewusstsein, durch unehrenhafte oder unanständige Handlungen den allgemeinen Erwartungen oder Normen nicht entsprochen zu haben. „Wer nicht lernt, seine Scham abzubauen, neigt dazu, alles persönlich zu nehmen und jede Kritik als Kritik an der eigenen Person zu sehen. Das kann zu lebenslangen Problemen führen“, erklärt Gerhard Steiner, MSc Systemischer Psychotherapeut Lebensberater im Gesundheitszentrum Seestadt, 1220 Wien.

Scham ist ein unbeliebtes Gefühl, es reiht sich ein in eine Schar anderer unerwünschter Gefühle, wie Schuld, schlechtes Gewissen, Neid, Eifersucht, Trotz, Ekel oder weiterer unangenehmer Gefühle. Die Scham ist oft vage und verschwommen, schwer beschreibbar und unklar. Manche Menschen erleben sie als „eigenartiges Gefühl“ und es hält sie davon ab, etwas zu sagen oder zu zeigen. Das Schamgefühl ist häufig von Erröten oder Herzklopfen begleitet; manchmal auch von typischen körpersprachlichen Gesten wie dem Senken des Blickes. Die Intensität der Empfindung reicht von flüchtiger Anwandlung bis zu tiefster Beklommenheit.

Ursprung der Schamgefühle

Gerhard Steiner: „Scham hat viele Aspekte und viele Wertigkeiten mit einem gemeinsamen Merkmal: Sie ist ein Gefühl, das auftreten kann, wenn Menschen sich ganz oder bestimmte Teile von sich zeigen.“ Das Wort Scham geht über mittelhochdeutsch „scham“ und althochdeutsch „scama“ auf germanisch „kamo“ – „zudecken, verschleiern, verbergen“ zurück. Durch das vorangestellte „s“ – skam – wird aus dem „Zudecken“ das „Sichzudecken“ oder „Sichverbergen.“

Scham ist ein soziales Gefühl, ein Interaktionsgefühl, ein Gefühl, das aus der Wechselwirkung zwischen Menschen entsteht und sich in ihr begründet. Zur Scham gehört die Öffentlichkeit anderer Menschen, zumindest die gedachte oder vermutete Öffentlichkeit anderer Menschen. Im Schamgefühl äußert sich der Wunsch, etwas zu verbergen, zu verstecken, unsichtbar zu machen, das sichtbar war oder sichtbar werden könnte.

Natürliche Scham

Scham unterteilt sich in zwei grundsätzliche Qualitäten: die natürliche Scham und die Beschämung. Mit natürlicher Scham wird die Scham gemeint, die auftreten kann, wenn ein Mensch etwas Persönliches oder Intimes von sich zeigt. Wenn ein Mann nach langem Anlauf seiner Freundin endlich sagt, dass er sie liebt.

Wir Menschen haben fast immer zwei Gefühle, die die Grenzen unseres Intimen Raums betreffen: Auf der einen Seite sehnen wir uns danach, dass diese Grenze durchlässig und flexibel sein möge, dass andere Menschen liebevolle Nähe und Begegnungen mit unserem Intimen Raum suchen. Auf der anderen Seite fürchten und ängstigen wir uns, dass Menschen den Intimen Raum verletzen. Daraus erwächst dann das Bedürfnis nach Schutz und Sicherheit.

Beschämung kommt von außen

Beschämung wird ausgelöst durch den Satz: „Schäm dich!“ „Schäm dich, du hast schon wieder eine schlechte Note!“ oder „Schäm dich, du warst heute so schlimm!“ „Schäm dich! …“. Diese Scham heißt Beschämung. Sie kommt von außen. Sie kommt in diesen Sätzen sehr deutlich daher. Doch sie kriecht oft auch merklich, subtil, im Gewand der kleinen Stiche, der Lächerlichkeit, Verächtlichkeit und des Sarkasmus von einem Menschen in die Richtung des Inneren des anderen. Wird das natürliche Schamgefühl durch Beschämungserfahrungen zugedeckt oder geprägt, wird es in seiner Lebendigkeit und Schutzfunktion eingeschränkt; dann ist Spurensuche nach den Quellen hilfreich.

Quellen der Beschämung

Scham aus einer Gewalt- oder Übergriffserfahrung: Wenn die Scham nicht situationsgebunden und nicht als kurzlebig erlebt wird, sondern nahezu beliebig und lang andauernd bei Kontakten mit anderen Menschen auftritt, dann spricht das dafür, dass bei der Person die Grenzen des Intimen Raums verletzt wurden – vermutlich gab es Gewalt und Übergriffserfahrungen in unterschiedlichen Ausprägungen.

Die existenzielle Scham: Darunter versteht man folglich, dass Menschen sich schämen, weil sie überhaupt existieren.

Die überflutende Scham: Sie ist wie ein umherschwebendes Gespenst. Dieses Schamgefühl kann auch dann auftreten, wenn der Intime Raum nicht berührt wird. Anlass kann z.B. ein „drohender“ lebendiger Kontakt mit einem Mitmenschen sein.

Resonanzscham: Eine Fernsehsprecherin hat sich versprochen und wir schämen uns mit.

Delegierte Scham: In Familiensystemen, vor allen Dingen zwischen Generationen, gibt es die gleiche Art des Mitschämens, ohne dass sich Sender und Empfänger ihrer bewusst sind. Die Mutter ist voller Scham, vielleicht existenzieller Scham. Sie hat „gelernt“, diese Scham zu verschieben oder zu verdrängen, um psychisch zu überleben. Das empfindsame Kind spürt diese Scham, ohne den Grund dieser Scham identifizieren zu können: Die Scham liegt als Atmosphäre in der Luft, das Kind glaubt, diese Scham sei die eigene – und hadert mit seinen Schamgefühlen. Im Talmund gibt es sogar den Satz: „Lieber sterben als beschämen.“

Rat und Hilfe

Die wichtigste Hilfe gegen Schamgefühle aus Beschämung besteht darin, Beschämung als Beschämung zu identifizieren. Nur wenn das Schamgefühl als Beschämung erkannt wird, als etwas, das von außen von anderen kommt, in die eigene Richtung zielt und das Innere trifft und abwertend ist, kann es von dem Schamgefühl, das der natürlichen Scham entspringt, unterschieden werden. Gehört die Scham, die Sie spüren, wirklich zu Ihnen und macht Sie darauf aufmerksam, Ihren Intimen Raum zu verteidigen, oder ist sie die Reaktion auf beschämende Äußerungen anderer Menschen?

Erst wenn Sie die natürliche Scham von der Beschämung unterschieden haben, können Sie wehrhaft werden und kann für die Beschämung gelten: „Zurück an den Absender.“

Wer sich schämt, neigt dazu, sich zu verbergen. Und wenn Menschen andere Menschen sehen, die sich schämen, reagieren auch sie zumeist mit Rückzugsimpulsen oder sie teilen die Scheu und Zurückhaltung. Scham scheut Kontakt. Scham droht einsam zu machen. Üben Sie lebendigen Kontakt – lebendiger Kontakt ist ein Schamfresser.

„Gegen Angriffe kann man sich wehren, gegen Lob ist man machtlos.“

Siegmund Freud

Buchtipp: Udo Baer / Gabriele Frick-Baer. Vom Schämen und Beschämtwerden, 142 Seiten, BELTZ Verlag 2108, ISBN:978-3-407-85867-2

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